Auszug: Die Bucht des Schweigens

Autorin: Bernadette Calonego
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Prolog

Beim Frühstück spricht er kaum. Seine Stirn, die Augen und Brauen, die Lippen wirken zusammengezurrt, als hielte jemand seinen Kopf im Klammergriff.
Er macht sich Sorgen. Sie weiß es.
In der Nacht war sie wieder aufgeschreckt, ihr Herz hart und groß wie ein Boxhandschuh. Die Seide des Pyjamas klebte auf ihrer Haut, feuchte Kälte auf der Stirn.
Sie saß aufrecht im Bett, der Atem kam stoßweise.
Plötzlich sein Gesicht neben ihrem, sie hatte ihn erschreckt.
Nicht zum ersten Mal.
Er strich ihr das wirre Haar aus dem Gesicht.
»Ich habe es wieder gehört«, sagte sie.
Das Heulen. Dieses schreckliche, unbegreifliche, markerschütternde Wimmern aus dem Nirgendwo.
Er drückte sie an sich.
»Es ist vorbei«, flüsterte er. »Niemand kann dir etwas anhaben.«
Dann streichelte er sie, bis sie in seinen Armen einschlief.

Jetzt beobachtet sie ihn heimlich.
Sie gibt vor, am Computer Fotos zu sortieren. Aus den Augenwinkeln betrachtet sie ihn, wie er gebeugt über dem Tisch sitzt, das Kinn in die rechte Hand gestützt. Seine Hand ist groß wie eine Schaufel. Er liest die Zeitung von vorne bis hinten, es ist nur das Lokalblatt, aber er lässt nichts aus, auch die Kleinanzeigen nicht. Er hat nicht gelernt, Seiten zu überfliegen. In seiner Welt gibt es nichts zu überfliegen, alles muss beachtet sein, die Richtung des Windes, die Bewegung der Gezeiten, der Wellenschlag, die Wanderungen der Fische, die Gespräche der Männer am Hafen, die Neuigkeiten und Gerüchte. Vor allem die Gerüchte.
Wer etwas verpasst, wer nicht Anteil hat am Wissen, am Geschehen im Dorf, steht bald im Abseits. Und das kann tödlich sein.
Sie weiß das erst, seit sie in sein Leben trat.
Wie haben wir all das nur überlebt?

Und jetzt ist er hier, weit weg vom Grab seines Bootes, der Mighty Breeze. Weg vom Nordatlantik und von den steilen Klippen, den mörderischen Stürmen und Strömungen. Weg vom Unheil und vom Sog, der ihn nach unten riss.
Ein Ausgestoßener in Vancouver. Ein Mann, der sonst nie anderswo sein will als auf dem Wasser und dem Boot und in dem kleinen, geduckten Haus mit den grünen Fensterrahmen. Er konnte nicht einmal mehr das Brennholz fein säuberlich zu Stapeln aufeinanderschichten, die der Sturm hinter dem Haus umgeblasen hatte, so schnell ging alles. Um solche Dinge müssen sich seine Gedanken manchmal drehen, ordentlich wie er ist. Ordnung ist ihm wichtig im Chaos der Gefühle und Bedrohungen.
Er kann nicht anders, als die ganze Zeitung zu lesen. Er kann auch keine Essensreste wegwerfen. ›Vergeudung‹ nennt er das und sein Gesicht verzieht sich jedes Mal bei diesem Wort. In seinem Schuppen am Ozean stapeln sich Plastikeimer, alte Seile und Werkzeuge, rostige Winden, gebrauchte Nägel, Holzlatten von abgerissenen Häusern, ausgediente Messer. Das braucht einer, der immer mit schlimmen Zeiten rechnet.
Aber mit dem Unheil, das ihn befiel, hat er nicht gerechnet.

Er blickt plötzlich auf und sie fühlt sich ertappt. »Hast du das gelesen?«, fragt er. »Die Leserbriefe? Da beklagen sich Leute, die ein Haus am Meer haben, dass Spaziergänger am Strand durch ihre Fenster ins Haus gucken.«
Sie lächelt, froh, dass er etwas gefunden hat, das ihn amüsiert. In seinem Dorf, da hat niemand etwas dagegen, dass Leute zu ihnen hineingucken. Da sehen sowieso alle alles. Und die Leute im Haus schauen ständig aus den Fenstern, damit ihnen nichts entgeht. Mit dem Feldstecher beobachten sie die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht. Sie wissen, wann die Lichter gelöscht werden und wann jemand abends nach Hause kommt.
Aber was sie wirklich hätten sehen sollen, davor haben sie die Augen verschlossen.
Er streckt seinen Oberkörper über den Tisch, um die oberste Ecke der Zeitung zu lesen. Die Kleinanzeigen. Sie kann sich an ihm nicht sattsehen. Sein Rücken ist rund wie der der Lederschildkröte, die eines Tages leblos an Land geschwemmt wurde. Am Morgen, als sie sich zum ersten Mal liebten, tasteten ihre Finger nach seinen Wirbeln. Sie konnte das Rückgrat nicht spüren. Als hätte er sich aus einem Meerestier in einen Menschen verwandelt.

Würde sie beobachtet werden, wie sie ihn jetzt beobachtet, hielte man ihre Faszination für Liebe.
Aber es ist eher ein Staunen. Eine stumme Verwunderung darüber, dass sie beide hier sind. Zusammen. Dass er ihr gefolgt ist, so weit.
Wie sind wir nur davongekommen!
Sind wir davongekommen?
Er hat die Stadt immer so gefürchtet. Den Verkehr. Die Menschenmengen. Die Hast. Lichtsignale überall. Augen, die an ihm vorbeisehen. Münder, die ihn nicht grüßen. Verloren im Menschenstrom auf den Gehsteigen.
Doch nach allem, was passiert ist, fühlt er sich hier geborgen. In Vancouver kennt ihn keiner. Niemand weiß etwas. Sein Name bedeutet nichts.
Es sind jetzt zehn Monate. Von Rückkehr spricht er nicht. Auch nicht von der Mighty Breeze. Oder von der Küche mit der laut tickenden Wanduhr. Kein Wort über die Bucht und den Landungsplatz, dessen morsche Planken er schon lange ersetzen wollte.
»Willst du nicht anrufen?«, fragt sie ihn manchmal.
Er schüttelt nur den Kopf.
Hebt die Augenbrauen, sieht zum Fenster hinaus, prüft den Himmel über den Wohntürmen in der Nachbarschaft. Dann will er spazieren gehen, bevor der Regen einsetzt. Der Spaziergang führt immer an den Ozean. Nicht an seinen Ozean, an das andere Meer im Westen, den Pazifik. Wasser, das zu seinem Erstaunen im Winter nicht gefriert.

Seit sie in Vancouver sind, hat sie ihn nie mehr fotografiert. Als läge ein Fluch darauf. Als würden die Bilder etwas enthüllen, worauf sie nicht gefasst wäre.
Wie er jetzt am Tisch sitzt, die Seiten umblättert, die Stirn konzentriert in Falten gerollt, den Rücken gebogen wie eine Brücke über dem Strom, den Mund zusammengepresst, das braucht sie nicht mit der Kamera festzuhalten. Das ist in ihr eingebrannt.
Genau wie das Geheimnis, das sie nie preisgeben darf.
Ob ihn auch immer wieder Bilder einholen wie sie jetzt? Sie weiß es nicht. Sie hat Angst, ihn zu fragen. Er schweigt darüber.
Aber vor ihren Augen tauchen sie immer wieder auf, oft wie aus dem Nichts, und es sind nicht immer die schrecklichsten Bilder.
Zum Beispiel dieser Wandteppich in einer fremden Wohnstube. Eine Gruppe Karibus vor einem Sonnenuntergang. Schwarzbraune Konturen vor kitschigen Neonfarben. Die Karibus sind wie festgefroren, geblendet von all dem grellen Orange und Gelb und Rot.
Ein Wild, gefangen im Scheinwerferlicht. Ein angstvolles Zögern zwischen Sicherheit und Verderben.

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