Auszug: Die letzte Erkenntnis

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Autorin: Bernadette Calonego


Prolog


Plötzlich war der Boden weg. Nichts mehr. Nur Leere.
Er fiel. Sein Kopf schlug wie ein Squashball links und rechts auf. Wände aus steinhartem Schnee. Er hatte keine Zeit zum Schreien.
Er fiel und fiel. Und dann ein jäher Schlag durch den ganzen Körper. Der Aufprall.
Er brauchte Minuten, um wieder denken zu können. Ganz nah vor sich sah er bläulich schimmerndes Eis. Er versuchte, den Kopf zu bewegen. Der Kopf ließ sich bewegen! Wo waren seine Arme? Seine rechte Hand fühlte sich weit weg an, wie losgelöst vom Körper. Der Arm zeigte nach oben, er lag parallel zum Kopf.
Sein linker Arm steckte in einem Kissen aus Schnee zwischen Körper und Eiswand. Langsam sah er an sich herunter. Angst kroch in ihm hoch. Angst zu sehen, was dort unter ihm war.
Seine Füße baumelten im Leeren.
Da war nichts, einfach nichts. Ein gähnender Abgrund. Tief unten lauerte der Tod.
Ihn überfiel Panik. Er schrie. Seine Schreie hallten dumpf von den Eiswänden wider.

Jetzt begriff er. Er klemmte in der schmalsten Stelle einer Spalte, die sich verengte wie eine Sanduhr und dann wieder weitete. Er war in eine Gletscherspalte gestürzt. In dem beliebten Skigebiet gab es gefährliche Gletscherspalten! Kinder auf Snowboards waren vor ihm die Piste hinuntergesaust. Aber er war durch den Schnee in den Abgrund gebrochen.
Jetzt hing er in einer kuhlenförmigen Scharte. Er schaute hoch. Weit, weit oben schimmerte helles Licht durch den nachgerutschten Schnee. Viel zu weit oben. Mindestens zehn Meter über ihm.
Seine linke Hand fühlte sich bereits kalt an. Wie lange dauerte es in diesen eisigen Temperaturen hier unten, bis die Finger erfroren? Vorsichtig bewegte er einen Fuß. Ein Prickeln im Bein. Der Eisvorsprung klemmte die Blutzufuhr oberhalb des Schenkels ab.
Wo war sein Snowboard? Er konnte es nirgendwo sehen. Und auch seine Bauchtasche war weg. Sie musste sich beim Sturz gelöst haben.
Aber das war nicht so schlimm. Viel schlimmer war, dass er sein Handy nicht bei sich hatte. Er konnte nicht einmal um Hilfe rufen.
Niemand konnte ihn erreichen. Und niemand würde ihn vermissen. Nicht für einige Tage.
Einige Tage. Er wollte nicht einmal eine einzige Nacht hier unten verbringen. Eine Nacht in diesem Eisgefängnis konnte den Tod bedeuten.
Er hatte sich schon einmal in den Alpen aus einer Gletscherspalte gerettet. Aber er war damals angeseilt gewesen und trug Steigeisen. Und einen Eispickel hatte er auch dabeigehabt. Oben hatten die Seilkameraden alle Hebel in Bewegung gesetzt.
Hier war er allein.
Was war das? Er hörte etwas. Ein Hämmern! Seine Retter! Sie befanden sich am Spaltenrand. Sie hämmerten unaufhörlich.

Aber er sah keine Retter. Und das war kein Hämmern. Es war sein eigener Puls, der unter seinem Helm widerhallte.
Er versank in Angst. In einem rasenden Anfall von Klaustrophobie.
Er versuchte, ruhiger zu atmen. Ein Gedanke durchblitzte ihn. Er wusste, jede Bewegung konnte ihn aus seinem Sicherheitssitz in die Tiefe befördern. Trotzdem musste er es wagen. Zentimeter um Zentimeter zog er den rechten Arm heran. Der Druck auf seine Schulter verstärkte sich. Unvermittelt spürte er einen stechenden Schmerz. Doch er hörte nicht auf. Die Hand befand sich schon auf der Höhe der Schulter. Unter Schmerzen drehte er sie, bis sie auf der Brusttasche seines Skianzugs lag. Seine Finger waren bereits etwas steif, es gelang ihm dennoch, den Klettverschluss aufzureißen.
Er konnte die Finger nicht in die Tasche schieben. Aber er drückte den Gegenstand in der Tasche von außen nach oben zur Öffnung. Er tastete nach der kühlen Oberfläche. Sein Taschenmesser. Eine Welle des Glücks durchflutete ihn.
In diesem Moment entglitt das Messer den kalten Fingern.
Er konnte es nicht fassen.
Mühsam wandte er den Blick nach unten. Da lag es, auf einer kleinen Eisbrücke! Bislang hatte er sie nicht bemerkt. Wenn es ihm gelänge, die Füße daraufzustellen, dann könnte er sich vielleicht aus seiner Falle befreien. Dann könnte er sich an der Wand aufrichten.
Er verwarf den Plan wieder. Wenn die schmale Brücke sein Gewicht nicht hielt, dann würde er für immer in der schrecklichen Tiefe verschwinden.
Er wartete. Je mehr Zeit verging, umso größer wurde seine Verzweiflung. Die Kälte kroch aus dem Eis in alle Winkel seines Körpers. Sein Kopf schmerzte. Seine Schulter schmerzte. Und jetzt fing auch das rechte Bein zu pochen an. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Er musste sich selbst helfen. Er musste handeln.

Langsam ließ er sich aus seiner sicheren Kuhle herabgleiten. Dann schwang er die Beine schräg hinüber – und kam zum Stehen! Sein Herz klopfte wild. Er zitterte. Je länger er stand, umso mehr Vertrauen fasste er in den schmalen Steg. Vorsichtig befreite er den Oberkörper vom Schnee, der auf ihn gefallen war, und stieß sich mit der Hand von der Eiswand ab. Die Brücke hielt.
Er streckte den rechten Arm ganz nach unten. Durch die Schulter zuckte ein höllischer Schmerz, aber er ignorierte ihn. Er packte das Messer im Schnee und ließ es nicht mehr los.
Er begann mit der Klinge an der Eiswand zu schaben. Es dauerte eine Stunde, bis er zwei Tritte herausgekratzt hatte. Erschöpft machte er Pause. Als er sich kräftig genug fühlte, stemmte er sich mit Oberkörper und Händen an der Wand ab und zog das linke Bein hoch. Dann das rechte. Die Snowboardschuhe schoben sich in die Eisstufen. Die Spalte war gerade eng genug, dass er den Rücken gegen die Wand drücken konnte. Er schloss die Augen. Der erste Schritt war geschafft.
Wieder kratzte er an der Eiswand. Stunden vergingen. Die Öffnung kam näher, aber das Licht wurde schwächer. Es wurde Abend. Er verstärkte seine Anstrengungen. Er musste es schaffen.
Seine Hand fasste nach oben. Ein Absatz. Harter Schnee. Kein Eis mehr. Er stemmte sich ein letztes Mal in die Höhe.
Offener Himmel. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er ließ sich auf den Rücken in den Schnee fallen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Im Kopf dröhnte es.
Dieses laute Dröhnen. Immer lauter. Er wandte den Kopf.
Da packte es ihn schon. Mit scharfen, metallenen Klauen. Es riss ihn auseinander. Verdrehte seine Glieder. Brach ihm die Knochen. Drückte den gefolterten Leib zurück in die Gletscherspalte. Und darüber einen Grabdeckel aus bleischwerem Schnee.